Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats Februar 2009

Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum,

Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri – od – Ameriko.

Christian Morgenstern

Es sind Gedichte wie der Lattenzaun, die Christian Morgensterns Ruhm als humoristischer Dichter begründen. Gekonnt spielt er mit der Sprache und befreit seine Themen aus dem gewohnten Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Beim Lattenzaun geschieht dies in der an sich absurden Idee, den Zaun seiner Zwischenräume zu berauben und daraus wiederum ein Haus bauen zu können. Es ist dies das Resultat einer freischwebenden Phantasie, die sich spielerisch über die Grenzen des Möglichen bzw. Wahrscheinlichen hinwegsetzt. Der Leser wird für einen Moment aus dem Korsett der Logik befreit, und dies stimmt ihn heiter.

Die heute geläufige Formel vom “Kind im Manne“ stammt von Nietzsche *), dem Morgenstern seine Galgenlieder widmet: Wie ein Kind will er spielen, im Lattenzaun und auch sonst – mit Worten, ihren Bedeutungen, mit der Sprache im Allgemeinen, aber auch mit Ideen, die auf den ersten Blick unsinnig erscheinen, wie die geraubten Zwischenräume. Er sitzt vor dem Baukasten der Sprache, wobei er nicht nur das vorgefundene Material neu kombiniert, sondern auch die einzelnen Bausteine aufbricht und neu zusammensetzt. Morgenstern spricht in diesem Zusammenhang – wiederum in Anlehnung an Nietzsche und dessen “Umwertung aller Werte“ – von der “Umwortung aller Worte“.

Chistian Mogenstern, 1871-1914

 

Das Ergebnis von Morgensterns Arbeitsweise sind in Form und Sprache kindlich anmutende Verse (Es war einmal… !), aber auch – teils recht bissige – Sprachgrotesken, die die Ende des 19. Jahrhunderts herrschenden poetischen Konventionen abstreifen. Die großen Begriffe, die Sprache der Klassik und Romantik haben sich verbraucht: Morgenstern reagiert darauf, erfasst nicht nur das Wesen der Dinge völlig neu, sondern auch ihre sprachliche Form.

*) Friedrich Nietzsche (1844-1900), Philosoph und Dichter. Zu Lebzeiten und bis heute umstrittener Kritiker der abendländischen Kultur-, Religions-, Moral- und Sozialtraditionen: “Gott ist tot“. Also sprach Zarathustra; Der Wille zur Macht; Jenseits von Gut und Böse; Menschliches, Allzumenschliches; Der Antichrist.
Manchmal hat man den Eindruck, er gehe gerade so vor wie sein berühmtes Wiesel, das nur um des Reimes Willen inmitten Bachgeriesel auf einem Kiesel sitzt: Dem Wortwitz, der unerwarteten Wendung scheint alles untergeordnet, wie in der letzten Zeile des Lattenzauns, wenn Morgenstern die abschließende Pointe gerade aus einem schiefen Reim bzw. Wortspiel gewinnt.

Morgenstern spürt in seinen Gedichten aber nicht nur den Lauten und den verschiedenen Bedeutungsebenen von Worten nach, er spielt auch auf graphischer Ebene wie bei den zwei Trichtern oder grammatisch wie beim Werwolf, der sich eines Nachts vom Geist eines Dorfschullehrers deklinieren lässt.

Morgenstern geht auch im wahrsten Wortsinne kreativ mit der Sprache um: Viele seiner Texte bauen auf Neuschöpfungen auf, und die folgen oft allein musikalischen oder atmosphärischen Überlegungen. Man darf den Dichter hier jedoch nicht zu nah bei der Nonsensliteratur sehen, denn scheinbar Sinnloses wie Das große Lalula entpuppt sich auf den zweiten Blick als Schachgedicht. Ebenso gelingt es ihm, mit einer Ansammlung von sprachlichen Neuschöpfungen wie im Flügelflagel eine eindeutige Stimmung einzufangen.

Der Flügelflagel

Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz.

Bei aller sprachlichen Ver- und Entfremdung ist die Atmosphäre, die der Flügelflagel schafft, doch unmissverständlich. Morgenstern gelingt die gruselige Miniatur, indem er mit lautlichen Verwandtschaften spielt und bewusst bekannte Schlüsselwörter setzt. Die Nähe von “gaustern“ zu “geistern“ bzw. von “Wiruwaruwolz“ zu „Wald“, “wirr“ und “Holz“ lassen an ein unheimliches Gehölz denken. Die Signalwörter “rot“ und “grausig“ regen zusätzlich die Phantasie des Lesers an. Obwohl Flügelflagel, Fingur und Golz kaum bis gar nicht beschrieben sind, haben wir sofort Unheimliches, Dunkles vor dem inneren Auge. Während man bei diesen Wesen bestenfalls ahnen kann, um was für Geschöpfe es sich handelt, sind andere zoologische Neuschöpfungen Morgensterns klarer: so Das Mondschaf, Der Steinochs oder Der Glockenwurm.

Keines hat jedoch einen solchen Bekanntheitsgrad erreicht wie jenes Tierchen, das auf seinen Nasen einherschreitet: das Nasobēm.

Das Nasobēm 

Auf seinen Nasen schreitet
einher das Nasobēm,
von seinem Kind begleitet.
Es steht noch nicht im Brehm.*)

Es steht noch nicht im Meyer.**)
Und auch im Brockhaus nicht.**)
Es trat aus meiner Leyer
zum ersten Mal ans Licht.

Auf seinen Nasen schreitet
(wie schon gesagt) seitdem,
von seinem Kind begleitet,
einher das Nasobēm.

Morgensterns Nasobem
*) „Brehms Thierleben“, erstmals 1863. Nachschlagewerk für Laien über alle Tiere der Welt
**) Die beiden wichtigsten deutschen Sach-Wörterbücher. Noch heute im Druck

In seiner unglaublichen Wirkung ist dieses fiktive Tier eine Art Vorläufer der Loriot’schen Steinlaus, auch wenn diese heutzutage sicher bekannter ist. Dafür hatte das Nasobēm nachhaltigere Folgen. 1957 veröffentlicht der Zoologe Gerolf Steiner unter dem Pseudonym Prof. Dr. Harald Stümpke das Lehrbuch Bau und Leben der Rhinogradentia, das sich der Anatomie und Physiologie sowie den Gewohnheiten der Nasenschreiter widmet. Das Buch – eigentlich als wissenschaftlicher Witz gedacht – wird ein riesiger Erfolg. Heute ist es in zahlreiche Sprachen übersetzt und Pflichtlektüre für Zoologiestudenten. Inzwischen kennen auch die meisten Nachschlagewerke das Nasobem; im “Pschyrembel“, dem medizinischen Wörterbuch schlechthin, steht jedoch auch weiterhin nur die Steinlaus.

Ein weiterer Wissenschaftsscherz, der auf Morgenstern zurückgeht, ist die sogenannte “Dunkelbirne“, die das Abdunkeln von Räumen ermöglicht (bei Morgenstern noch Die Tagnachtlampe.

Fortbestand hat die Morgenstern’sche Dichtung auch im Schatz unserer geflügelten Worte, denn seine Gedichtfigur „Palmström“ „kommt zu dem Ergebnis: / Nur ein Traum war das Erlebnis. / Weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf“ (Die unmögliche Tatsache).

Es passt zum Spiel mit Wörtern und Anklängen, dass viele Gedichte Morgensterns im mündlichen Vortrag noch gewinnen. Er selbst trug Teile der Galgenlieder bereits in den 1890er Jahren in einem Kreis von Freunden vor, die sich „Galgenbrüder“ nannten. Erinnert sei an Gert Fröbes Darbietung von Morgensterns Gedichten „Morgenstern am Abend“, in der er das minimalistische „Gedicht“ Fisches Nachtgesang grandios interpretiert.

Auch wenn Christian Morgenstern heute vor allem für seine humoristische Dichtung bekannt ist, so hat er doch auch ernste „Gedankenlyrik“ verfasst, die vor allem von seiner Beschäftigung mit Nietzsche geprägt ist, mit dem Buddhismus und der Anthroposophie (einer neuen philosophisch-pädagogischen Richtung seiner Zeit: vgl. Rudolf Steiner, Waldorf-Schulen). Außerdem übersetzte er große norwegische Dichter wie  Strindberg, Ibsen und Hamsun ins Deutsche.

Morgenssterns "Fisches Nachtgesang"

 

Morgensterns Fisches Nachtgesang

Christian Morgenstern1871 wird Christian Morgenstern in München geboren. Mit zehn Jahren erkrankt er an Tuberkulose. Unter ihr leidet er sein Leben lang. Wenig später zieht er mit seinem Vater nach Breslau, wo er die Schule besucht und erste Schreibversuche macht. Entgegen den Wünschen seines Vaters geht er nur kurz auf eine Militärakademie, studiert stattdessen in Breslau, später in München Nationalökonomie. In den frühen 1890er Jahren entstehen bereits erste humoristische Texte, die später in den Galgenliedern erscheinen. Aus gesundheitlichen Gründen kann Morgenstern sein Studium nicht abschließen; 1894 zieht er nach Berlin, wo er neben einer Stellung an der Nationalgalerie für verschiedene Zeitungen arbeitet. 1895 beginnen seine Buchveröffentlichungen, und ab 1903 arbeitet er als literarischer Lektor im Verlag von Bruno Cassirer. Dort erscheinen 1905 auch die Galgenlieder. 1909 lernt er Rudolf Steiner (s.o.) kennen und schließt sich seinem Kreis an.
Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens sind von zahlreichen Sanatoriumsaufenthalten geprägt, zu denen ihn seine Tuberkuloseerkrankung zwingt. 1914 stirbt Morgenstern in Meran.

Florian Hoppe