Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats Dezember 2009

SchneeflockeWINTERZEIT

Oh Winter – viel gescholt´ner Mann.
Dein Schritt betagt, dein Haupt grauweiß.
So schreitest frostig du voran –
bedeckst die Welt mit Schnee und Eis,
damit sie sich erholen kann.

Schenkst der Natur die starre Zeit,
in der sie im Verborg´nen schafft.
So ist im Frühjahr sie bereit
und präsentiert mit frischer Kraft
ihr herrlich buntes Blütenkleid.

Beim Stöbern im Internet ist ein Freund des HDS auf diese Verse gestoßen. Wir nehmen sie gern als unser Dezember-Gedicht. Thematisch passt es zur Jahreszeit und sogar ein wenig zur aktuellen Debatte darüber, was der allmähliche Verlust an “Winter“ für das Leben auf unserem Planeten langfristig bedeuten könnte. Auf jeden Fall: Der Winter ist unentbehrlich für die Natur und damit für uns, der „viel gescholt’ne Mann“ in Wahrheit ein Segen. Das “Haupt grauweiß“ zu Beginn ist ursächlich verbunden mit dem “bunten Blütenkleid“ des letzten Verses.

Die Sprache ist schnörkellos, die Reime sitzen unauffällig und in reizvoller Fünfer-Folge a-b-a-b-a. Ein gelungenes Gedicht, eher Gedanken- als Gefühlslyrik.

Anita MengerAn der Fundstelle im Netz steht darunter: © Anita Menger, 2009. Wer ist diese Dichterin? Jedenfalls ein Kind unserer Zeit, das das Internet als Forum entdeckt hat und nicht darauf warten kann oder will, dass ein Buchverlag sein Talent vermarktet.

Bitte melden Sie sich bei uns, Anita Menger! Ihrem Netzauftritten haben wir außer dem Geburtsjahr (1959) und einem Foto leider nicht viel entnehmen können. Das “schafft“ (statt hochdeutsch “arbeitet“ oder „wirkt“) lässt Sie irgendwo in Süddeutschland vermuten. Oder brauchten Sie das Wort einfach des Reimes wegen?

 

Nicht immer gehen die Dichter so naturwissenschaftlich-nüchtern mit dem Thema “Winter“ um. Doch selbst die, die kein gutes Haar an dieser Jahreszeit lassen mögen, lindern sich ihr Leiden dadurch, dass sie den Frühling, den nächsten, irgendwie ins Bild bringen.

Ein frühes Beispiel dafür sind die folgenden Verse des großen mittelalterlichen Lyrikers Walther von der Vogelweide (um 1170 bis 1230; mit sommerlich-sinnlichen Erinnerungen schon einmal als Gedicht des Monats Juli 2009 im HDS vertreten):

Uns hat der winter geschadet über al:
heide unde walt sint beide nu val,
da manic stimme vil suoze inne hal.
saehe ich die megde an der straze den bal
werfen! So kaeme uns der vogele schal.
fahl, farblos
wo manche Stimme süß drin hallte
sähe ich doch … !
Dann käme zu uns
Möhte ich verslafen des winters zit!
wache ich die wile, so han ich sin nit,
daz sin gewalt ist so breit und so wit.
weizgot er lat ouch dem meien den strit:
so lise ich bluomen da rife nu lit.
Könnte ich doch …!
… derweilen, so grolle ich ihm,er lässt dem Mai den (Sieg im) Streit:
dann lese/pflücke .. wo nun Reif liegt

Johann Gottfried HerderNoch ein halbes Jahrtausend später versöhnt die Gewissheit des kommenden Frühlings mit der Härte des Winters. Zunächst tröstet Goethes Freund Johann Gottfried Herder (1744-1803) die leidende Natur, schließlich sich selbst:

AN DIE BÄUME IM WINTER

Gute Bäume, die Ihr die starr entblätterten Arme
Reckt zum Himmel und fleht wieder den Frühling herab!
Ach, Ihr müßt noch harren, Ihr armen Söhne der Erde,
Manche stürmige Nacht, manchen erstarrenden Tag!
Aber dann kommt wieder die Sonne mit dem grünenden Frühling
Euch; nur kehret auch mir Frühling und Sonne zurück?
Harre geduldig, Herz, und birg in die Wurzel den Saft Dir!
Unvermuthet vielleicht treibt ihn das Schicksal empor.

Auch Joseph von Eichendorff (1788-1857), schon im September 2009 Gast im HDS, träumt über den Winter hinaus:

WINTERNACHT

Verschneit liegt rings die ganze Welt,
Ich hab nichts, was mich freuet.
Verlassen steht der Baum im Feld,
Hat längst sein Laub verstreuet.
Der Wind nur geht bei stiller Nacht
Und rüttelt an dem Baume.
Da rührt er seinen Wipfel sacht
Und redet wie im Traume.

Er träumt von künft´ger Frühlingszeit,
Von Grün und Quellenrauschen,
Wo er im neuen Blütenkleid
Zu Gottes Lob wird rauschen.

Eine Art Frühling im Winter selbst entdeckt Karl Krolow (1915-99). Das ermutigt ihn, gibt ihm Gelassenheit:

EISBLUMEN

Blumen, zärtlich hingehaucht,
tief vom Frost umfangen
hold in halbes Licht getaucht,
sind mir aufgegangen.
Ohne Zahl. Sind froh erwacht
aus dem Wintergrunde,
blühen mir zur nahen Nacht
Stunde wohl um Stunde.

Leben leicht und ohne Not
wie die Sommerfalter.
Leise ist ihr Blumentod,
schnell und ohne Alter.

Inhaber der Rechte:
Suhrkamp Verlag

Immer wieder finden wir Bäume oder “den Wald“ in den Wintergedichten. Bei Heinrich Heine (1797-1856) träumt die Fichte nicht vom Frühling, sondern vergleicht ihr Leiden im Schnee unserer Breiten mit dem der Palme in der Hitze des Orients.

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh‘.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

Nicht alle Wintergedichte klagen über die Härten der kalten Jahreszeit. In der warmen Stube kann es recht behaglich sein. Gleich noch einmal Heinrich Heine:

ALTES KAMINSTÜCK

Draußen ziehen weiße Flocken
Durch die Nacht, der Sturm ist laut.
Hier im Stübchen ist es trocken,
Warm und einsam, still vertraut.

Sinnend sitz ich auf dem Sessel,
An dem knisternden Kamin.
Kochend summt der Wasserkessel
Längst verklungne Melodien. Wackelnd kommt herbeigeschwommen
Manches alte Zauberschloß.
Hintendrein geritten kommen
Blanke Ritter, Knappentroß.

Und das alles zieht vorüber,
Schattenhastig übereilt.
Ach, da kocht der Kessel über,
und das nasse Kätzchen heult.Und ein Kätzchen sitzt daneben,
Wärmt die Pfötchen an der Glut.
Und die Flammen schweben, weben;
Wundersam wird mir zu Mut.

Dämmernd kommt heraufgestiegen
Manche längst vergeßne Zeit.
Wie mit bunten Maskenzügen
Und verblichner Herrlichkeit.

Schöne Fraun, mit kluger Miene,
Winken süß geheimnisvoll,
Und dazwischen Harlekine
Springen, lachen, lustig toll.

Ferne grüßen Marmorgötter,
Traumhaft neben ihnen stehn
Märchenblumen, deren Blätter
In dem Mondenlichte wehn. Moderner Kamin

Als wahrer Bewunderer des Winters gibt sich der Hamburger Matthias Claudius (1740-1815). Oder ist da Ironie im Spiel? Zur Sicherheit jedenfalls empfiehlt er seine Verse als

EIN LIED, HINTERM OFEN ZU SINGEN

Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an,
Und scheut nicht süß noch sauer.

War je ein Mann gesund, ist er’s;
Er krankt und kränkelt nimmer,
Er trotzt der Kälte wie ein Bär
Und schläft im kalten Zimmer.

Er zieht sein Hemd im Freien an
Und läßt´s vorher nicht wärmen
Und spottet über Fluß im Zahn
Und Kolik in Gedärmen.

Aus Blumen und aus Vogelsang
Weiß er sich nichts zu machen,
Haßt warmen Drang und warmen Klang
Und alle warme Sachen. Doch wenn die Füchse bellen sehr,
Wenn´s Holz im Ofen knittert,
Und um den Ofen Knecht und Herr
Die Hände reibt und zittert;

Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
Und Teich’ und Zehen krachen;
Das klingt ihm gut, das haßt er nicht,
Dann will er tot sich lachen.

Sein Schloß von Eis liegt ganz hinaus
Beim Nordpol an dem Strande;
Doch hat er auch ein Sommerhaus
im lieben Schweizerlande.

Da ist er denn bald dort, bald hier,
gut Regiment zu führen.
Und wenn er durchzieht, stehen wir
Und sehn ihn an und frieren.

Matthias Claudius
Matthias Claudius

Auf nicht gerade anheimelnde Weise schön ist das Wintergemälde von Georg Heym (1887-1912) – eine “Straßenszene“, könnte man sagen, eine Momentaufnahme im Panorama-Format. All das, was das Auge in einem Sekundenbruchteil gleichzeitig erfasst, muss vom Dichter in eine Abfolge von Einzelbeobachtungen zerlegt werden. Das innere Auge des Zuhörers oder Lesers fügt es wieder zum Gesamtbild. (Der altrömische Dichter und Lyriklehrer Horaz (65-8 vor Christus) hatte gefordert, Dichtung solle wie ein Gemälde sein, “ut pictura poiesis“.)

DER WINTER

Der blaue Schnee liegt auf dem ebenen Land,
Das Winter dehnt. Und die Wegweiser zeigen
Einander mit der ausgestreckten Hand
Der Horizonte violettes Schweigen.

Hier treffen sich auf ihrem Weg ins Leere
Vier Straßen an. Die niedren Bäume stehen
Wie Bettler kahl. Das Rot der Vogelbeere
Glänzt wie ihr Auge trübe. Die Chausseen

Verweilen kurz und sprechen aus den Ästen.
Dann ziehn sie weiter in die Einsamkeit
Gen Nord und Süden und nach Ost und Westen,
Wo bleicht der niedere Tag der Winterzeit.

Ein hoher Korb mit rissigem Geflecht
Blieb von der Ernte noch im Ackerfeld.
Weißbärtig, ein Soldat, der nach Gefecht
Und heißem Tag der Toten Wache hält.

Der Schnee wird bleicher, und der Tag vergeht.
Der Sonne Atem dampft am Firmament,
Davon das Eis, das in den Lachen steht
Hinab die Straße rot wie Feuer brennt.

Schnee-Impressionen Schnee-Impressionen Schnee-Impressionen

Schlicht schön ist die Schneelandschaft für Rainer Maria Rilke (1875-1926):

Es gibt so wunderweiße Nächte,
Drin alle Dinge Silber sind.
Da schimmert mancher Stern so lind,
Als ob er fromme Hirten brächte
Zu einem neuem Jesuskind.
Weit wie mit dichtem Demantstaube *)
Bestreut, erscheinen Flur und Flut,
Und in die Herzen, traumgemut,
Steigt ein kapellenloser Glaube,
Der leise seine Wunder tut.

*) Diamantenstaub

Fast als wolle der Dichter den Gedanken abwehren (“als ob …“), klingt hier behutsam an, was in vielen Wintergedichten, zumal in den populären, ein zentrales Motiv ist: die Geburt Christi. In der biblischen Geschichte ist vom Winter keine Rede, schon gar nicht von Tannen, von festlich geschmückten oder von schneebedeckten im Walde. Doch das Kalenderdatum des Feierns hat über die Jahrhunderte in unserer Vorstellungs- und Gefühlswelt eine feste Verbindung zwischen Weihnachten und Winter geschaffen. So wird manches Wintergedicht zugleich zum Weihnachtsgedicht und umgekehrt. Ganz überwiegend geht es dabei um die Vorweihnachtszeit, die Vorahnung, die Vorfreude.

In seinem beliebten, mittels einer überlieferten Volksmelodie zum Welterfolg gewordenen Gedichtlein braucht Eduard Ebel (1839-1905) die Zusammenhänge gar nicht erst zu erläutern. Wenn der Schnee auf den Wald fällt, dann sieht das eben weihnachtlich aus:

Leise rieselt der Schnee,
still und starr liegt der See,
weihnachtlich glänzet der Wald.
Freue dich, Christkind kommt bald!

Von weißen Weihnachten zu träumen ist nicht nur im deutschsprachigen Raum saisonale Bürgerpflicht. Das “dreaming of a white Christmas“ wird in der Dezemberhitze der südlichen Halbkugel, etwa in Australien, Südafrika oder Brasilien, auch denen von den Kaufhaus-Lautsprechern nahegelegt, die Schnee nur aus Filmen kennen. Sie singen aber gern mit.

Bekennt sich die famose Großstadtdichterin Mascha Kaléko (1907-75) zu der fast automatischen Verschwisterung winterlicher und (vor)weihnachtlicher Gefühle? Oder klingt hier Ironie mit?

ADVENT

Der Frost haucht zarte Häkelspitzen
Perlmuttergrau ans Scheibenglas.
Da blühn bis an die Fensterritzen
Eisblumen, Sterne, Farn und Gras.
Kristalle schaukeln von den Bäumen,
Die letzen Vögel sind entflohn.
Leis fällt der Schnee … In unsern Träumen
Weihnachtet es seit gestern schon.

 Mascha Kaléko

James Krüss (1926-97), Verfasser des HDSMonatsgedichts Juni 2009, meint es ernst, auch wenn er scherzt:

TANNENGEFLÜSTER

Wenn die ersten Fröste knistern,
in dem Wald bei Bayrisch-Moos,
geht ein Wispern und ein Flüstern
in den Tannenbäumen los.
Ein Gekicher und Gesumm
Ringsherum.Eine Tanne lernt Gedichte,
eine Lärche hört ihr zu.
Eine dicke, alte Fichte
sagt verdrießlich: „Gebt doch Ruh!
Kerzenlicht und Weihnachtszeit
sind noch weit!“
Vierundzwanzig lange Tage
wird gekräuselt und gestutzt,
und das Wäldchen ohne Frage
wunderhübsch herausgeputzt.
Wer noch fragt: „Wieso? Warum?“
der ist dumm.Was das Flüstern hier bedeutet,
weiß man selbst im Spatzennest:
Jeder Tannenbaum bereitet
sich nun vor aufs Weihnachtsfest,
denn ein Weihnachtsbaum zu sein:
das ist fein!