Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats Mai 2010

SEI GETROST

EIN VATER …

Das ist die Sünde, die du fliehen sollst:
Der Hader mit dem Schicksal. Sei getrost !
Es führt dich gut, geht es auch dunklen Weg.
Folg’ nur ergebnen Herzens, wie ein Kind,
Das an der Mutter Hand im tiefen Wald
Nach Hause strebt und innig sicher ist:
Die Mutter, o die Mutter kennt den Weg.
Ein Vater ist ein Steuermann
Nur sinnend, auf dem Lebensmeer
Sein junges Schiffsvolk um ihn her
Zu lenken, wie er weiß und kann.

Gleich zwei Gedichte präsentiert das HDS heuer für den Mai. Er ist schließlich der Monat sowohl des Mutter- als auch des Vatertags. Beide stehen seit ein paar Jahrzehnten bei uns wie auch anderswo im Kalender, doch nirgends sind sie staatliche oder religiöse Feiertage. Es gibt auch keine Regeln, wie man sie zu begehen habe. Ist mit Konfekt für die Mutter, mit Cognac für den Vater dem Vierten Gebot der Bibel Genüge getan: “Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren […]“ – mit einem Blumenstrauß, Küsschen oder Anruf?

Wir können “ehren“ und “lieben“ nicht kurzerhand gleichsetzen, doch beides gehört eng zusammen beim Miteinander der Generationen in der Familie. Auch in vielen Gedichten über die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern liegen “ehren“ und “lieben“, auch “danken“ dicht beieinander.

Die beiden kurzen Gedichte (siehe oben) haben wir nicht in der obersten Schublade des deutschsprachigen Lyrikschatzes gefunden. Sie sind aber gut geeignet, auf das zweifache Thema – Vater / Mutter – einzustimmen. Wer, Mutter oder Vater, sagt den Kindern, wie sie den richtigen Weg durch das Leben finden?

Bei dem schlesischen Dichter Otto Julius Bierbaum (1865-1910) ist die Mutter die Instanz, der das Kind, ohne zu fragen, vertrauensvoll folgt: “an der Mutter Hand“. Für Karl Mayer, den Schwaben (1786-1870), lenkt der Vater – Hand am Steuer. Beide führen die Kinder sicher ans Ziel. Nur, wie sie es tun, genauer: wie die Geführten es empfinden – das ist eben unterschiedlich.

Otto Julius Bierbaum Karl Mayer

Beide Sichtweisen haben mit dem traditionellen Verständnis der Rolle von Mann und Frau, von Vater und Mutter in Familie und Gesellschaft zu tun. Ohne jeden Zweifel an seiner Richtigkeit hat uns Friedrich Schiller (1759-1805) in seinem großen gesellschaftlichen Panorama “Das Lied von der Glocke“ dargestellt, wie sein Idealmuster und das seiner Vorfahren und Zeitgenossen aussah:

Auszug aus "Das Lied von der Glocke" Auszug aus "Das Lied von der Glocke"

Dies kann unserer heutigen Sicht nicht oder allenfalls als historisches Zeugnis einer vergangenen Zeit standhalten. Die Lyriker des 18. und des 19 Jahrhunderts jedoch hatten keinen Anlass, sich theoretisch, gar kritisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Sie haben uns stattdessen eine Reihe schöner Gedichte hinterlassen, die – meist ohne sachliche Begründung, aber in eindrucksvoller Emotionalität – ihre Liebe zur Mutter oder zum Vater in Verse fassen.

Den Österreicher Hermann von Gilm (und Rosenegg), 1812-1864, hat das HDS schon einmal vorgestellt, im Monat Oktober 2009 mit dem Herbstgedicht ALLERSEELEN. In den folgenden Versen ist er nicht ganz ’unparteiisch’. Schon die Überschrift:

DIE MUTTER

Leise atmend, halb entschlummert
Liegt das Kind im Bettchen klein,
Plötzlich durch das offne Fenster
Schaut der Abendstern herein.

Und nach ihm mit beiden Händen
Laut aufweinend langt das Kind:
„Mutter, Mutter, hol‘ mir diesen
Schönen Stern herab geschwind!“

„Dummheit!“ ruft der Vater zornig
Hinter einem Zeitungsblatt,
„Was der Fratz von dritthalb Jahren
Für verrückte Launen hat! Denk‘ man: dreißig Millionen
Meilen weg und ein Planet,
Der zweihundertvierundzwanzig
Tage um die Sonne geht!“

Doch die Mutter tröstet leise:
„Schlaf‘, mein Engel! Diese Nacht
Hol‘ ich dir den Stern vom Himmel,
Der dir so viel Freude macht;

Morgen früh, hier auf dem Bette
Findest du den Edelstein“ –
Und das Kind, in Tränen lächelnd,
Schläft am Mutterherzen ein.

Zur Mutter: Denken wir an die kurzen bewegenden Zeilen in dem nur auf den ersten Blick politischen Gedicht NACHTGEDANKEN von Heinrich Heine (1797-1856), geschrieben im französischen Exil. Dort heißt es eingangs:

“Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht.“

Am Ende des Gedichts überrascht uns die einfache Erklärung dieses Vers-Paares:

“Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.“

Die Mutter im Vaterland …

Oder denken wir an Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848), die vergeblich um Worte ringt, als sie die Liebe zur Mutter so auszudrücken will, wie sie sie empfindet:

AN MEINE MUTTER

So gern hätt‘ ich ein schönes Lied gemacht
Von Deiner Liebe, deiner treuen Weise;
Die Gabe, die für andre immer wacht,
Hätt‘ ich so gern geweckt zu deinem Preise.

Doch wie ich auch gesonnen mehr und mehr,
Und wie ich auch die Reime mochte stellen,
Des Herzens Fluten wallten darüber her,
Zerstörten mir des Liedes zarte Wellen.

So nimm die einfach schlichte Gabe hin,
Von einfach ungeschmücktem Wort getragen,
Und meine ganze Seele nimm darin:
Wo man am meisten fühlt, weiß man nicht viel zu sagen. Annette von Droste-Hülshoff

Es ist unerheblich, ob die Dichterin hier zu ihrer noch lebenden Mutter spricht, an ihrem Sterbebett oder Grab. Viele der Gedichte über die Mutter oder den Vater sind liebevoller Rückblick auf deren Leben, auf das, wofür man ihnen zu danken hat.

Detlev von Liliencron (1844-1909):

Detlev von Liliencron

MEINER MUTTER

Wie oft sah ich die blassen Hände nähen,
ein Stück für mich – wie liebevoll du sorgtest!
Ich sah zum Himmel deine Augen flehen,
ein Wunsch für mich – wie liebevoll du sorgtest!
Und an mein Bett kamst du mit leisen Zehen,
ein Schutz für mich – wie sorgenvoll du horchtest!
Längst schon dein Grab die Winde überwehen,
ein Gruß für mich – wie liebevoll du sorgtest!

Der Vater: Zwei der schönsten ‚Sohn an den Vater’-Gedichte sind Ausdruck des schmerzhaften Abschieds, des Rückblicks. Die Verse AN MEINEN LÄNGST VERSTORBENEN VATER von Joachim Ringelnatz (1883-1934) stehen im HDS beim Monat Mai 2009.

Der Hamburger Dichter Matthias Claudius (1740-1815) war 33 Jahre alt, als sein Vater starb. Alsbald widmete er ihm im “Wandsbecker Boten“ diese Verse:

BEI DEM GRABE MEINES VATERS

Friede sei um diesen Grabstein her!
Sanfter Friede Gottes! Ach, sie haben
Einen guten Mann begraben,
Und mir war er mehr;

Träufte mir von Segen, dieser Mann,
Wie ein milder Stern aus bessern Welten!
Und ich kann’s ihm nicht vergelten,
Was er mir getan.

Er entschlief; sie gruben ihn hier ein.
Leiser, süßer Trost, von Gott gegeben,
Und ein Ahnden von dem ew’gen Leben
Düft’ um sein Gebein!

Bis ihn Jesus Christus, groß und hehr!
Freundlich wird erwecken – ach, sie haben
Einen guten Mann begraben,
Und mir war er mehr. Matthias Claudius

Freilich gibt es auch Gedichte, in denen ein Vater oder eine Mutter den Tod eines Kindes beweint. Eines stehe hier für viele. Paul Heyse (1830-1914):

Mir war’s, ich hört es an der Türe pochen,
Und fuhr empor, als wärst du wieder daUnd sprächest wieder, wie du oft gesprochen,
Mit Schmeichelton: Darf ich hinein, Papa?

Und da ich abends ging am steilen Strand,
Fühlt ich dein Händchen warm in meiner Hand.

Und wo die Flut Gestein herangewälzt,
Sagt ich ganz laut: Gib acht, daß du nicht fällst.

Solchen Gedichten stehen andere gegenüber, wenn auch nicht allzu viele, die den Umgang der Eltern mit ihren Kindern im Alltag gelassen, gar fröhlich beschreiben, nicht selten die besondere Situation vor dem Einschlafen (der Kinder, wohlgemerkt!). Dem Volksmund werden, mangels eines bekannten Dichternamens, die klassischen Zeilen zugeschrieben:

Schlaf, Kindlein, schlaf!
Der Vater hüt’t die Schaf,
Die Mutter schüttelt’s Bäumelein,
Da fällt herab ein Träumelein.
Schlaf, Kindlein, schlaf !

Nicht ganz so einfach lief das immer bei Richard Dehmel (1863-1920):

WIEGENLIED FÜR MEINEN JUNGEN

Schlaf, mein Küken; Racker, schlafe!
Guck: im Spiegel stehn zwei Schafe,
Bläkt ein großes, mäkt ein kleines,
Und das kleine, das ist meines!
Bengel, Bengel, brülle nicht,
Du verdammter Strampelwicht.

Still, mein süßes Engelsfüllen:
Morgen schneit es Zuckerpillen,
Übermorgen blanke Dreier,
Nächste Woche goldne Eier,
Und der liebe Gott, der lacht,
Daß der ganze Himmel kracht.

Und du kannst und nimmst die Spenden,
Säst sie aus mit Sonntagshänden,
Und die Erde blüht von Farben,
Und die Menschen tun’s in Garben –
Herrr, den Bengel kümmert nischt,
Was man auch für Lügen drischt.

Warte nur, du Satansrachen:
Heute nacht, du kleiner Drachen,
Durch den roten Höllenbogen
Kommt ein Schmetterling geflogen,
Huscht dir auf die Nase, hu,
Deckt dir beide Augen zu; Deckt die Flügel sacht zusammen,
Daß du träumst von stillen Flammen,
Von zwei Flammen, die sich fanden,
Hölle, Himmel still verbanden – –
So, nun schläft er; es gelang;
Himmel, Hölle, Gott sei Dank! Richard Dehmel

Weniger dramatisch, eher von stiller Innigkeit gefördert sieht Theodor Storm (1817-88) das Einschlafen seines Kleinen:

ABENDS

Auf meinem Schoße sitzet nun
Und ruht der kleine Mann;
Mich schauen aus der Dämmerung
Die zarten Augen an.
Er spielt nicht mehr, er ist bei mir,
Will nirgends anders sein.
Die kleine Seele tritt heraus
Und will zu mir herein.

Bewegter, freilich auch einer Rechtfertigung bedürftig, sieht Otto Ernst (1862-1926) aus Ottensen bei Hamburg sein Tun als Vater. Vom unauffälligen Beruf her Lehrer, entwickelte er erfolgreich Beziehungen zur literarischen Szene seiner Heimatstadt und zur Bühne. Das könnte die Rolle erklären, in der er sich in dem folgenden Gedicht als Vater sieht.

VATER HARLEKIN

Warum ich tanz’ vor meinem Sohn und singe
Und wie ein Harlekin Grimassen schneide?
Daß einst ein heimlich Lachen ihm gelinge,
Wenn er verlassen steht im Lebensleide …

Laßt mich nur tanzen und Grimassen schneiden,
Daß er ein lächelndes Erinnern habe
Und meiner Liebe still sich noch erlabe,
Wenn ich versunken längst mit meinen Leiden.

Beim ’Schaugeschäft’ angekommen, sollten wir uns noch an einen Text besonderer Art erinnern. Auch er gehört gewiss nicht zu den Meisterwerken der deutschsprachigen Lyrik. Doch er hat sich, durch den Schweizer Komponisten Paul Burkhard zugleich schmissig und rührend vertont, in den 1950er Jahren und noch lange danach in ganz Europa und in Nordamerika ungeheurer Beliebtheit erfreut.

Lys Assia Das Feuerwerk

Musikalische Komödie in drei Akten
Text von Erik Charell und Jürg Amstein
nach einem Lustspiel von Emil Sautter
Gesangstexte von Jürg Amstein und Robert Gilbert
Musik von Paul Burkhard

[…] O mein Papa
War eine wunderbare Clown.
O mein Papa
War eine große Kinstler.
Hoch auf die Seil,
Wie war er herrlich anzuschaun!
O mein Papa
War eine schöne Mann! […]