Haus der deutschen Sprache
Gedicht des Monats

Gedicht des Monats Juni 2010

ANGEDENKEN AN NEAPEL

Ja, verschwunden sind sie, sind verschwunden,
Jene kurzen, jene schönen Stunden,
Die auch ich am Pausilipp*) erlebt.
Holder Traum von Grotten, Felsen, Hügeln,
Inseln und der Sonne schönen Spiegeln,
Seen, Meer – du bist mir fortgeschwebt!Fortgeschwebt die zaubernde Sirene**),
Die mich ohne süßer Flöten Töne
Schwesterlich in ihre Arme nahm;
Und mein Herz schlug voller und geschwinder,
Und mein Blut floß reiner und gelinder,
Da ihr Atem mir entgegen kam.

Sehnend sah ich ihres Busens Wellen
Sanfter sich und reger zu mir schwellen,
Schwamm dann mit der Fläche sanft dahin;
Sah den schönen Kranz von Fels und Hügeln,
Sah die Sterne, sah den Mond sich spiegeln
In der süßen Freudegeberin.

Sah die Inseln in den Wellen schweben,
Träumt‘ auf ihnen ein beglücktes Leben,
Unbekannt und aller Welt entflohn;
Sammelt‘ nur um mich den Kreis der Meinen –
Ach, ihr Wellen, oft saht ihr mich weinen
Um sie, für sie, zu der Göttin Thron!Wenn die Abendröt‘ im stillen Meere
Sanft verschwebte, und mit seinem Heere
Glänzender der Mond zum Himmel stieg,
Ach, da flössen mit so neuem Sehnen
Unschuldvolle, jugendliche Tränen;
Nur ein Seufzer sprach, und alles schwieg.

Nimmer, nimmer sollt ihr mir entschwinden,
Immer wird mein Herz euch wiederfinden,
Süße Träume, rein und zart und schön.
Nie wird euch mein Auge wiedersehen,
Doch ein Hauch wird lispelnd zu euch wehen:
»Ich, auch ich war in Arkadien ***).«

 
*) Pausilipp, heute Posilippo: Hügelkette bei Neapel mit Blick über die Bucht
**) Aus Frau und Vogel zusammengesetzte Gestalt in der griechischen Sage
***) Arkadien: Landschaft auf der griechischen Halbinsel Peloponnes, der Legende nach die Urheimat der Griechen. Später wurde “Arkadien“, besonders in der deutschen Literatur, zu einer Art Kürzel für alles mittelmeerisch Antike.
 
 
Der Verfasser dieses Monatsgedichts ist Johann Gottfried Herder (1744-1803). Bekannter als durch seine Dichtungen und bedeutender für die Kulturgeschichte wurde Herder durch seine Forschungen und zahlreichen Abhandlungen zu sprach-historischen und sprach- theoretischen Themen. Nach dem Studium in Königsberg, unter anderem bei Immanuel Kant, und nach Aufenthalten an immer wieder anderen Orten im deutschsprachigen Raum fand er 1776 eine feste Stellung in Weimar. Dort hielt sich seit 1775 der fünf Jahre jüngere Goethe auf, und in den folgendenJahren kam es zu Zusammenarbeit, Freundschaft und Zerwürfnis zwischen den beiden. Die Bucht von NeapelDie Bucht von Neapel
Unbekannter Maler,
19. Jahrhundert

1788-89 – Goethe war gerade von seiner ersten „Italienischen Reise“ nach Weimar zurückgekehrt – konnte Herder als Begleiter eines Kirchen-Oberen seine Italienreise unternehmen. Als deren Höhepunkt hat er in diesem Gedicht seine Begegnung mit Neapel gefeiert.

Johann Gottfried Herder Herders "Italienische Reise"

Gedicht des Monats Juni:  Am 21. beginnt der Sommer und für die Mitteleuropäer die Ferien- und Reisezeit. D-A-CH, die Autokennzeichen der deutschsprachigen Länder Europas, sind für einige Wochen allenthalben im Straßenbild der Nachbarländer zu sehen, hier und da auch ein FL aus dem deutschsprachigen ’Fürstentum Liechtenstein’. Die Auto-, Bahn-, Bus-, Schiffs-, Rad- und Flugzeugreisenden aus diesen Ländern, vielleicht noch der eine oder andere Wanderer, speisen deutsche Klänge in das sommerliche Sprachengewirr der beliebtesten Urlaubsländer ein. – Welche das sind, schwankt von Jahr zu Jahr, ist abhängig von Moden, Preisen oder politischen Entwicklungen.

Doch das Lieblingsziel, früher weit mühsamer zu erreichen als heute, war über zweihundert Jahre lang und ist für viele noch immer Italien – der „Klassiker“ unter den Urlaubsländern. Nicht nur wegen Pasta, Pabst und Parmaschinken, wegen Pisa, Pizza und Pinien-Hainen, sondern auch wegen des kulturgeschichtlichen Erlebnis- und Anschauungswertes. So manche Arie aus Verdis Opern, Mario Lanzas “Arrividerci Roma“ oder der brillante Ohrwurm “O sole mio“ bringen in den Nordlichtern bis heute ihre alte Sehnsucht zum Klingen – die Sehnsucht nach dem “Land, wo die Zitronen blühn“ (GdM März 2009), dem Land der schönen Künste,  Menschen und Melodien, des kreativen Chaos, der sinnlich fassbaren Begegnung von Antike, frühem Christentum, Mittelalter und Moderne.

In unserem ’Gedicht des Monats’ (s.o.) kommt das Wort “Italien“ allerdings nicht vor, ebenso wenig wie in Goethes berühmtem Lied von den blühenden Zitronenbäumen und in den meisten Italien-Gedichten. Das hat zwei Gründe:

Zum einen gab es bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kein einheitliches politisches Gebilde mit diesem Namen, sondern eine zum Teil von fremden Mächten, zum Teil von regionalen Fürsten verteidigte Kleinstaaterei – von den Alpen bis nach Sizilien. “Italien“ war gleichwohl der Begriff für alles, dessen Kultur von der italienischen Sprache getragen wurde – ähnlich der Situation in „Deutschland“, das bis zur Reichsgründung 1871 “nur“ ein kulturell-sprachlicher Sammelname war, aber keine politische Realität. Daran erinnert das Italien - Eine Reise in Gedichten (Reclam)Vorwort der Brüder Grimm zu ihrem 1854 begonnenen “Wörterbuch der deutschen Sprache“: „Was haben wir denn Gemeinsames als unsere Sprache und Literatur?“ (siehe GdM November 2009). – Auch die Polen haben in ihrer Sprache als Kulturnation weitergelebt, als ihr Staat für lange Jahre durch fremde Mächte von der Landkarte radiert worden war.

Der andere Grund: Das von den deutschsprachigen Dichtern besungene Italien, ihre Gefühle und Beschreibungen gehen meistens von der Anschauung konkreter Orte aus, vom dort Erlebten. Italien besteht in der deutschsprachigen Lyrik überwiegend aus einzelnen, oft namentlich benannten Städten, Landschaften oder Kunstwerken. Mal ist’s die Alpenregion, mal Venedig, die Toskana, Rom, Sizilien, ein Brunnen.

Daran orientiert sich die Auswahl der italienischen HDS-Gedichte, und so ist auch die vorzügliche Sammlung aufgebaut, die zu diesem Thema als Reclam-Heftchen für 3 Euro im Handel ist.

Freilich versuchen auch etliche Italien-Gedichte, ohne sich auf einen einzelnen Ort zu konzentrieren, “das Italienische“ an sich und als Ganzes zu erfassen, es gar mit dem Norden zu vergleichen. Das oben genannte Gedicht von Goethe (GdM März 2009) gehört in diese Gruppe. Wir wissen, nach welchem Land die kleine Mignon sich hier sehnt. Doch das Wort “Italien“ kommt in ihrem Text nicht vor, ebenso wenig wie in den Versen des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (1818-97):

Was soll mir fürder dieser Norden
Mit seinen trivialen Horden?
Was Schönes auch sein Schoß erzeugt, –
Es stirbt verbittert und gebeugt.

Was will die Kunst mit ihrem Buhlen?
Des Wissens eitler Zank in Schulen?
Was soll die Habgier und die Not?
Neun Zehnteil lägen besser tot!

Und dieses Busens letztes Glühen
Soll ich im Stillen hier versprühen?
Hervor mein Stab und Wanderhut,
Es wird noch „alles, alles gut“! O nimm, du heißgeliebter Süden!
Den Fremdling auf, den Wandermüden!
Erfülle seine Seele ganz
Mit deinem heitern Sonnenglanz!

Laß rings um ihn den Wunderreigen
Der alten Götter leuchtend steigen,
Zeig’ ihm aus alt- und neuer Zeit
Gestalten voll Unsterblichkeit!

Laß ihn dein Volk, laß deine Frauen
In abendlichen Tanze schauen!
Mit aller Schönheit Zauberwein
Schläfre die bange Seele ein!

Auch der große Lyriker und Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) nennt „Italien“ nicht. Und doch wissen wir sogleich, dass er es meint:

IM SÜDEN

So häng‘ ich denn auf krummem Aste
Und schaukle meine Müdigkeit.
Ein Vogel lud mich her zu Gaste,
Ein Vogelnest ist’s, drin ich raste.
Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit!

Das weiße Meer liegt eingeschlafen,
Und purpurn steht ein Segel drauf.
Fels, Feigenbäume, Turm und Hafen,
Idylle rings, Geblök von Schafen, —
Unschuld des Südens, nimm mich auf! Nur Schritt für Schritt — das ist ein Leben,
Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer.
Ich hiess den Wind mich aufwärts heben,
Ich lernte mit den Vögeln schweben, —
Nach Süden flog ich über’s Meer.

Vernunft! Verdrießliches Geschäfte!
Das bringt uns allzubald an’s Ziel!
Im Fliegen lernt‘ ich, was mich äffte, —
Schon fühl‘ ich Mut und Blut und Säfte
Zu neuem Leben, neuem Spiel …

Einsam zu denken nenn‘ ich weise,
Doch einsam singen — wäre dumm!
So hört ein Lied zu eurem Preise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schlimmen Vögelchen, herum!

So jung, so falsch, so umgetrieben
Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben
Und jedem schönen Zeitvertreib?
Im Norden — ich gesteh’s mit Zaudern —
Liebt‘ ich ein Weibchen, alt zum Schaudern:
„Die Wahrheit“ hieß dies alte Weib … Friedrich Nietzsche   Friedrich Nietzsche

Der Satiriker Klabund (bürgerlich: Alfred Henschke, 1890-1928) verspottet nur scheinbar die Italiener, in Wirklichkeit aber deutsche Kultur-Banausen und ihre schnoddrigen Vorurteile:

BERLINER IN ITALIEN

Die ganze Welt ist voll von Berlinern.
Deutschland, Deutschland überall in der Welt.
Ich sah sie auf der Promenade in Nervi sich gegenseitig bedienern,
Und sie waren als Statisten beim Empfang des italienischen Königs
In Mailand aufgestellt.

Da konnten sie einmal wieder aus vollem Herzen Hurra schreien.
So ’n König, und sei er noch so klein, ist doch janz was anderes als so ’ne
Mickrige Republik.
In Bellaggio wandeln sie unter Palmen und Zypressen zu zweien,
Und aus dem Grandhotel tönt (fabelhaft echt italienisch;
Pensionspreis täglich 200 Lire) die Jazzmusik.

Wie hübsch in Bologna die Jungens mit den schwarzen Mussolinihemden!
Wie malerisch die Bettler am Kirchentor!
Die und die Flöhe finden einen Fremden
Aus hunderttausend Eingeborenen hervor.

In Genua am Hafen aus engen mit Wäsche verhangenen Gassen winken
Schwarzäugige Mädchen und sind bereit,
Gegen entsprechendes Honorar sich abzuschminken.
O du fröhliche, o du selige Frühlingszeit.

Dagegen das Kolosseum, die ollen Klamotten, die verstaubten Geschichten,
Das haben wir zu Hause auf halb bebautem Gelände auch, nu jewiß.
Den schiefen Turm von Pisa sollten sie mal jrade richten.
Mussolini hat dazu den nötigen Schmiß.

Über diesem Lande schweben egal weg die Musen,
Man sehe sich die Brera und die Uffizien *) an.
Die mageren Weiber von Botticelli kann ich nich verknusen,
Aber Rubens, det is mein Mann.

Wohin man sieht, spuckt einer oder verrichtet sonst eine Notdurft:
Es ist ein echt volkstümliches Treiben.
Prächtig dies Monument Vittorio Emmanueles in Rom: goldbronziert
Und die Säulenhalle aus weißem Gips.
Dafür kann mir das ganze Forum jestohlen bleiben.
Ich bin modern. A proposito: haben Sie für Karlshorst**) sichere Tips?

*) Die berühmten Gemäldesammlungen in Mailand und Florenz 
**) Eher unberühmter Stadtteil Berlins

 

“Campanile“ heißen, auf Italienisch, alle Glockentürme. Im Deutschen ist damit meist der Turm von San Marco in Venedig gemeint, so auch bei Alfred Kerr (1867-1948), dem Berliner Schriftsteller und Journalisten aus Breslau, als er sich über deutsche Venedig-Touristen amüsiert:

DER NEUE CAMPANILE

I
Campanile? Campanile !
„Auferstanden!“ *) (jubeln viele);
„Ruderscht du vor die Piazzetta,
Wirkt der Eindruck jetzt viel netta.“
III
“Horch ! Die Campanile-Glocken !“
Pirna **) macht sich auf die Socken.
Herrlich an der Adria
Liegt das Café Quadri ! Ja !
Lehrerinnen, säck’sche Grazien
Sitzen vor den Procurazien ***) – –
Wo das blonde Frauensbild
„Ober ! Einen Wääärmuth!“ brüllt.
II
Prächtiger Platz, mit Bogen, Zacken,
Platz, auf dem die Tauben … hacken.
Weil man ihnen Erbsen streut.
(Und sie hacken stets erneut).
 
*) 1912 nach Einsturz neu erbaut
**) Kleinstadt in Sachsen   
***) Residenz des Herrschers
Aus: Alfred Kerr, Die Welt im Licht. Band 2. Berlin1920. 
Alle Rechte vorbehalten S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Nun also einige der Gedichte über einzelne italienische Orte. Bleiben wir zunächst in Venedig. – In vier knappen Strophen hat der Zürcher Conrad Ferdinand Meyer (1825-98) die abendliche Stimmung in Venedig meisterhaft eingefangen, das Spiel der Geräusche und Lichter:

AUF DEM CANAL GRANDE

Auf dem Canal grande betten
Tief sich ein die Abendschatten,
Hundert dunkle Gondeln gleiten
Als ein flüsterndes Geheimnis.

Aber zwischen zwei Palästen
Glüht herein die Abendsonne,
Flammend wirft sie einen grellen
Breiten Streifen auf die Gondeln. In dem purpurroten Lichte
Laute Stimmen, hell Gelächter,
Überredende Gebärden
Und das frevle Spiel der Augen.

Eine kurze kleine Strecke
Treibt das Leben leidenschaftlich
Und erlischt im Schatten drüben
Als ein unverständlich Murmeln.

“Überredende Gebärden“ – kann man ein Gespräch zwischen Italienern treffender und sympathischer beschreiben?

Weiter, in die Toscana mit ihren berühmten Städten Florenz, Lucca, Pisa und Siena. Von Theodor Däubler, 1876 im damals österreich-ungarischen Triest geboren und nach einem Leben in vielen Ländern Europas 1934 im Schwarzwald gestorben, ist diese

ODE AN FLORENZ

Zypressen stehen da als hohe Pforte.
In silberner Verschwendung tagt Florenz.
Du stehst vor Gottes vorgeträumten Worte:
In deiner Welt mit einem ernsten Lenz !

Zypressen stehen da als hohe Pforte:
Sie führen auf den Bergen hoch zum Herrn.
Zypressen stehn vor jedem Felsenorte
Und weisen abends auf den ersten Stern. Das ist Hesperien *). Herrlich. Gottbegnadet.
Das schöne Land mit dem Zypressensaum,
Wo jede Stadt in Goldergüssen badet,
Und jeden Baum beweht sein Silbertraum.

Die Seelenheimat unter milden Schleiern
Mit blauen Augen sieht dich sonnig an.
Das Weingelände frägt nach Hochzeitsfeiern,
Sein stiller Engel hält mich sacht im Bann.

*) Griechisch “Hespera“ = westliches Land. Gemeint ist Italien.
Karte der Toscana

Paul Heyse (1830-1914) mag heute nicht mehr vielen bekannt sein. Zu seinen Lebzeiten war er ein gefeierter Literat. Als erster deutschsprachiger Dichter erhielt er 1910 den Nobelpreis für Literatur. Zu diesem Sonett angeregt hat ihn die Begegnung mit Florenz’ eifersüchtiger Schwesterstadt

SIENA

Ich sah dich hellgeschmückt vom jungen Lenz,
Du höchstgetürmte von Toskanas Städten
Und Blütenbanner friedenvoll umwehten
Die einst’ge Nebenbuhlin von Florenz.

Dein Ruhmesanrecht – nur der Forscher kennt’s.
Der Wettstreit ruht; du bist zurückgetreten.
Doch Aug und Herz der Künstler und Poeten
Bestreiten der Jahrhunderte Sentenz.*) Hier folg‘ ich gerne jener Heil’gen Spuren,
Die rührend edel Welt und Himmel maß
Mit reinstem Blick begnadeter Naturen.

Und wer, der jemals sie geschaut, vergaß
Die andern Wunderwerke dieser Fluren,
Die wonnigen Gestalten Sodomas*) !

 
*) Richterspruch 
**) Sodoma, Maler aus Siena

Rom. Goethes eineinhalbjährige “Italienische Reise“ (1786-88) führte ihn zweimal für längere Zeit auch nach Rom. Wieder in Weimar, verfasste er sogleich die “Römischen Elegien“ *), einen Zyklus von 24 Gedichten. Mal geht es um sehr persönliche (nicht immer ganz “jugend-freie“) Erlebnisse und Reflexionen, mal um kulturhistorische Aspekte “der ewigen Stadt“. Besondere Beachtung verdient das Gedicht, in dem es Goethe gelang, diese beiden Elemente, das sinnliche und das kunsthistorische, miteinander zu verschmelzen: “Vor- und Mitwelt“ – ziemlich raffiniert:

Froh empfind ich mich nun auf klassischem Boden begeistert;
Vor- und Mitwelt spricht lauter und reizender mir.
Hier befolg ich den Rath, durchblättre die Werke der Alten
Mit geschäftiger Hand täglich mit neuem Genuß.
Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;
Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt.
Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens
Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?
Dann versteh ich den Marmor erst recht; ich denk und vergleiche,
Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.
Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages,
Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin.
Wird doch nicht immer geküsst, es wird vernünftig gesprochen;
Überfällt mich der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet,
Und des Hexameters *) Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf den Rücken gezählt. Sie athmet in lieblichem Schlummer,
Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust.
Amor schüret die Lamp indeß und denket der Zeiten,
Da er den nämlichen Dienst seinen Triumvirn **) getan.
 
*) “Hexameter“: eine klassische griechische Versform mit Ton (’Hebung’) auf der ersten Silbe und dann auf fünf weiteren mit jeweils einer oder zwei unbetonten Silben dazwischen, so wie im 1., 3., 5. Vers (usw.) dieses Gedichts selbst.  Die Verse 2, 4, 6 (usw.) sind “Pentameter“ (Fünf-Heber), in denen auf die letzte Hebung keine unbetonte Silbe mehr folgt.  –  Auch diese Abfolge von wechselnd langen Versen (ohne Reim) ist klassisch-antik. Ein solches ungleiches Vers-Paar heißt “Distichon“ (= Zwei-Versler).
**) “Amor …den nämlichen Dienst seinen Triumvirn getan“:  Auf diese Weise, meint Goethe, hat der Liebesgott auch die “drei Männer“ (Triumvirn) inspiriert, die im letzten Jahrhundert vor Christus das große Dichter-Trio der römischen Liebes-Elegie bildeten: Catull, Tibull, Properz. 

Die Vielfalt der “ewigen Stadt“ Rom, das heute nebeneinander und zugleich im geschichtlichen Nacheinander Erlebbare, hat der Dichter (und Maler) Robert Gernhardt (1937-2006) mit souveräner Knappheit in Verse gefasst.

So, wie die verschiedenen Epochen der Geschichte Roms ineinander übergehen, so fließen Gernhardts Sätze über die Grenzen der Strophen hinweg:

Das Rom der Foren, Rom der Tempel
Das Rom der Kirchen, Rom der Villen
Das laute Rom und das der stillen
Entlegnen Plätze, wo der Stempel

Verblichner Macht noch an Palästen
Von altem Prunk erzählt und Schrecken
Indes aus moosbegrünten Becken
Des Wassers Spiegel allem Festen

Den Wandel vorhält. So viel Städte
In einer einzigen. Als hätte
Ein Gott sonst sehr verstreuten Glanz

Hierhergelenkt um alles Scheinen
Zu steingewordnem Sein zu einen:
Rom hat viel alte Bausubstanz. 
 
Robert Gernhardt

Aus: Robert Gernhardt, Gesammelte Gedichte 1954-2006. 
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008

 

Selinunt

Nach Neapel hatte uns schon Herders Eingangsgedicht geführt. Ein Sprung also, am vielbesungenen Capri vorbei, nach Sizilien. An dessen südlicher Küste liegt, ganz im Westen, Selinunt, eine altgriechische Stadt mit einem wuchtigen Tempel (oder was davon übrig ist). Den hat Reinhold Schneider (1903-58), der in schweren Zeiten standhaft-christliche Dichter, in den 1930er Jahren besucht:

KÜSTENSTADT SELINUNT

Zuweilen, wenn der Regen niederwallt,
Scheint milder auch die Zeit herabzutauen,
Bis wieder Meer und Himmel grausam blauen
Und die Gestalt verwest in Ungestalt.

Noch eh der Werkschar Hammerschlag verhallt,
Zerbrach der Gott, was sie gewagt zu bauen,
Als sollten sie die Riesentrümmer schauen,
Das letzte Sinnbild göttlicher Gewalt.

Geborstne Säulentürme überragen
Die Stümpfe und die Trommeln, während brausend
Die Woge tönt von dunkler Klage wider,

Als habe selber sich der Gott geschlagen,
Und mählich, von Jahrtausend zu Jahrtausend
Verwesten seine ungeheuren Glieder.